Am 26. April fand in Kassel eine Veranstaltung des dortigen 14N-Bündnisses statt mit dem Titel: „Arm trotz Arbeit – 10 Jahre Agenda 2010 – Eine kritische Bilanz!“. Im folgenden dokumentieren wir den Kurzbeitrag des BEV für diese Veranstaltung:
Unbedarft betrachtet könnte Arbeits- bzw. Erwerbslosigkeit ja eigentlich eine nette Sache sein: Endlich mehr Zeit für einen selber und für die Dinge, auf die man so Lust hat.
In dieser Gesellschaft aber bedeutet die Tatsache keine Arbeit zu haben, abgesehen jetzt mal von denen, die ein Unternehmen haben, für die meisten Leute ein ihre Existenz bedrohendes Problem. Indem der Staat mit seinem Gewaltmonopol das Privateigentum durchsetzt und gewährleistet, verpflichtet er alle auf dieses als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Die Konsequenz daraus ist eine wirklich üble: Alle sind in eine faktische – stumme – Konkurrenz zu einander um Eigentum bzw. Einkommen gesetzt. Für die Meisten bedeutet das den Zwang einen Arbeitsplatz finden zu müssen. Für die Arbeitenden hat das dann im Idealfall Maloche für ein bisschen Lohn zur Folge und für die sie anstellenden Unternehmen Profit aus ihrer Arbeit.
Deswegen ist es notwendig bei allem was jetzt folgt auf dem Schirm zu haben: Lohnarbeit ist keine schöne, verheißungsvolle Einrichtung, sie ist ein unter den Bedingungen dieser Gesellschaft erzwungenes Ausbeutungsverhältnis. Auch wenn sie sich, meistens auch nur „hier“ im globalen Westen, für viele „gut“ anfühlt und als „Sinn des Lebens“ medial verklärt wird: Sie ein übles Zwangs und Ausbeutungsverhältnis, das eigentlich auch abgeschafft gehört.
Noch schlimmer aber als einen Arbeitsplatz zu haben ist es keinen zu haben. Früher, bis vor circa 130 Jahren, in der Phase der Entstehung des modernen Kapitalismus, sind die Leute dann daran schlicht verreckt, so wie es heute immer noch in vielen Teilen der Welt dann der Fall ist. Die frühe Arbeiter*innenbewegung hat dagegen sich nicht nur eine Vielzahl von Selbsthilfe und Solidaritätsstrukturen organisiert, sondern auch vom Staat das erkämpft, was umgangssprachlich als Sozialstaat bekannt ist: Die Bereitschaft und Zusage des Staates, bevor Leute am Mangel an Eigentum Schaden zu nehmen drohen, sie mit seinen Mitteln, meistens Geld, davor zu bewahren. Dabei machte und macht das der Staat nicht uneigennützig oder aus purer Menschenfreude. Der Job des Staates ist es dafür zu sorgen, dass der eigene kapitalistische Laden rundläuft, auf dem Weltmarkt in der globalen Standortkonkurrenz gut dasteht und für die eigenen, nationalen Unternehmen best-mögliche Standortbedingungen vorhanden sind. Marodierende Erwerbslose sind da nicht nur der öffentlichen Ordnung abträglich. Auch in den Zeiten, in denen sie keinen Arbeitsplatz haben, ist es nötig sie in einem Zustand zu halten, indem sie für den Arbeitsmarkt optimal gebrauchbar und für die Unternehmen verwertbar sind. Das umfasst nicht nur so notwenige Banalitäten wie Wohnung, Essen, Kleidung und Gesundheitsversorgung, es meint auch die psychische Verfassung der zynischer Weise heute oft als „Arbeitnehmer“ bezeichneten.
Damit wären wir eigentlich auch schon bei der Agenda 2010 bzw. Hartz IV. Aus der Sicht von Standort, Staat und Unternehmen war die Einführung und Umsetzung der Agenda 2010 eine sehr schlaue und weitsichtige Reform. Aus den besonderen und einmaligen Bedingungen des kalten Krieges heraus gab es in Deutschland einen relativ weitgehenden Sozialstaat. Dieser, obwohl spätestens mit der schwarz-gelben Koalition unter Kohl im Abbau befindlich, war das Ergebnis nicht nur des Zwangs in der Systemkonkurrenz mit „dem Osten“ besser dazustehen, sondern auch eines anderen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses als aktuell, in dem es wenigstens noch Reste einer gesellschaftlich wirkmächtigen radikalen Linken und einer, wenigstens noch in Teilen sozialdemokratischen, Gewerkschaftsbewegung gab. Mit 1989/90 war die Notwendigkeit gegenüber „dem Osten“ gut dazustehen dann gegessen. Die rot/grüne Regierung Schröder/Fischer schließlich verpasste Deutschland die Modernisierung, die es heute dem deutschen Standort ermöglicht Staaten wie Griechenland als scheinbar prassende Hochlohnländer da stehen zu lassen.
Hartz IV ist ein umfassendes System der repressiven Zurichtung, Kontrolle und versuchten Konditionierung von Erwerbslosen. Dabei korrespondieren auf menschenfeindliche Art und Weise die Flanke der finanziellen Unterstützung mit der Flanke der psychischen Bearbeitung und Zurichtung. Viel zu geringe Sätze für Leben und Wohnen funktionieren als allumfassendes Lohnsenkungsprogram, in dem auch der schlechtbezahlteste Arbeitsplatz dem Jobcenter oft noch vorgezogen wird. Wer da freiwillig nicht mitgeht, dem hilft das Amt mit Gewalt nach: Mit der Androhung und Aussprache von Sanktionen werden die Erwerbslosen so in Niedriglohn und Zeitarbeitsplätze gezwungen. Ungefähr 1/3 aller Bezieherinnen von Hartz IV sind heute sogenannte Aufstocker*innen: Lohnarbeitsverhältnisse von denen die Arbeitenden nicht leben könnten, werden so staatlich subventioniert, zu Gunsten der Unternehmensgewinne.
Sollten die Betroffenen trotz allem Druck dann doch noch nicht solch einen Arbeitsplatz „gefunden“ haben oder vielleicht sogar, im Orwellschen Sprech als „Vermittlungshemnisse“ bezeichnete, Eigenschaften wie z.B. kleine Kinder aufweisen, errichten die Ämter ein alltägliches und emotional für die Betroffenen oft permanentes Klima der Bedrohung und Zurichtung: In sogenannten Maßnahmen wie z. B. „Tugenden der Arbeit“ lernen sie worauf es ankommt: Unterwürfigkeit, Machtlosigkeit und das blinde Befolgen von Anweisungen. So schult der Staat Staatsbürger*innen wie er sie sich wünscht und Arbeitende wie sich die Unternehmen sie wünschen: Folgsame und disziplinierte Niedriglöhner*innen, denen die Schufterei in der Zeitarbeitsbude irgendwann fast als entspannte Utopie erscheint.
Beispiele hierfür ließen sich noch viele Aufzeigen: Ob 24 Jährige von denen bei Erwerbslosigkeit oft versuchsweise verlangt wird bei den Eltern wieder einzuziehen, Hausbesuche der Sachbearbeiter*innen, bei denen der Kleiderschrank genau inspiziert wird oder der Versuch massenhaft Altersarmut zu erzeugen, indem Erwerbslose mit dem Erreichen des 63. Lebensjahrs in Frührente gedrängt werden.
Wer die Gewinner*innen und Verlier*innen von Hartz IV sind lässt sich so eindeutig bestimmen: Die Agenda 2010 und insbesondere Hartz IV sind ein umfassendes System von Reformen zu Gunsten des Standortes Deutschland, des deutschen Staates und der in Deutschland arbeiten lassenden Unternehmen. Die Verliere*innen sind all die, die gezwungen sind gegen Lohn zu arbeiten, ob mit gerade einem Arbeitsplatz oder ohne, und ob in Deutschland oder in anderen Ländern wie beispielweise Griechenland.
Der notwendige Kampf dagegen darf deswegen auch nicht hinter diese Erkenntnisse zurückfallen. Der Versuch Hartz IV z.B. mit rechtlichen Mitteln grundsätzlich beizukommen ist deswegen so falsch wie aussichtlos, auch wenn es natürlich nötig ist, diese in und gegen die alltäglichen Zumutungen der Hartz IV Maschine einzusetzen. Auch das Hoffen, Betteln oder Appellieren an den Staat, einen „Politikwechsel“, Politik*innen und Parteien, egal wie „kämpferisch“ verkleidet, kann nicht aufgehen. Gerade der Staat ist es ja, der von der Agenda 2010, von Hartz IV profitiert und gerade wegen ihr auf dem Weltmarkt so gut dasteht. Auch ein vermeintliches „Zurück“ zum alten Sozialstaat bietet keine Perspektive. Nicht nur das diese Hoffnung die damaligen, nur anders beschissenen Zustände, im Nachhinein schön redet, der damalige Sozialstaat war das konkrete Ergebnis ganz bestimmter globaler Kräfteverhältnisse und Umstände, die – zum Glück – nicht wieder reanimierbar sind.
Was einzig bleibt ist die Notwendigkeit sich illusionslos über die eigenen, konkret gerade sehr beschränkten Möglichkeiten bewusst zu werden. Eine Erwerbslosenbewegung gibt es nicht, nur organisatorisch und inhaltlich vereinzelte einzelne Aktivengruppen. Und selbst wenn es eine solche gäbe, wäre ihre gesellschaftliche Wirkungsmächtigkeit fragwürdig, fehlt es ihr strukturell doch an Mitteln wie z. B. der Möglichkeit zu Streiken.
Auch in der Frage möglicher Bündnispartner*innen sieht es mau aus. Der DGB als Gesamtzusammenhang scheidet als Organisation der nationalen Arbeit zugunsten des Standortes aus: Uns trennen die Absichten, Interessen und Zwecke. Auch mit den Parteien ist keine Bewegung zu machen: „Arbeit soll das Land regieren“. Diese faktische Drohung ist nicht nur der Wahlkampfslogan der Linkspartei 2002 gewesen, er eint auch faktisch alle Parteien. Nicht um die Bedürfnisse der Leute, um ein selbstbestimmtes, schönes Leben geht es ihnen, sondern um die Organisation der Lohnarbeit, darum, Deutschland voranzubringen. Einzig in der Frage des „wie“ scheiden sie sich und inszenieren dies alle vier Jahre mehr oder weniger mediengerecht.
Was bleibt ist die Notwendigkeit sich transnational gegen Staat, Nation, Kapital und Lohnarbeit zusammen zu tun, zu organisieren und zur Wehr zu setzen und damit auch gegen die all die Zumutungen, Beschädigungen und Beschränkungen von Agenda 2010 und Hartz IV.
Damit irgendwann mal mit der „ganzen alten Scheiße“ (Marx, MEW 3, S. 35) endlich Schluss ist.