MIGRATION In Bremerhaven wittern Behörden und Politik massiven „Sozialbetrug“ und kündigen repressive Maßnahmen an. Kritiker sprechen von Rassismus.
VON JAN ZIER
Sie reden von massivem „Sozialmissbrauch“ in Bremerhaven und „Ausweisungen“ von EU-BürgerInnen. Mit scharfen Worten geißeln SPD-Oberbürgermeister Melf Grantz und die Chefs von Arbeitsagentur und Jobcenter in Bremerhaven den ihrer Ansicht nach systematischen „Missbrauch von Sozialleistungen“ durch Zuwanderer vor allem aus Bulgarien und Griechenland.
„Es gibt eindeutige Hinweise“ auf einen „organisierten Zuzug“ von EU-AusländerInnen gerade nach Bremerhaven, behauptet Grantz. Sein Vorwurf: Mit „fingierten Arbeitsverträgen“ würden in großem Stil Transferleistungen „erschlichen“. Der Geschäftsführer des Jobcenters in Bremerhaven, Friedrich-Wilhelm Gruhl, spricht von 600 bis 1.000 Fällen und nennt Bremerhaven eine „Hochburg“ in Deutschland. Das Problem habe sich seit Sommer 2014 „zugespitzt“, so Gruhl.
„Das Problem kennen wir seit Jahren“, sagt eine Mitarbeiterin des AWO-Beratungsbüros für EU-Zuwanderer in Bremerhaven. Zusammen mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Zoll wollen Oberbürgermeister, Arbeitsagentur und Jobcenter nun dafür sorgen, dass der ungerechtfertigte Bezug von Sozialleistungen „aufgedeckt, verfolgt und bestraft“ wird: „Wir werden konzentriert gegen die Verantwortlichen und die Nutznießer vorgehen“, kündigte Grantz an. Konkrete Beweise fehlen aber offenbar. „Aufgefallen“ sei eine „größere Anzahl“ von Arbeitsverträgen, die „einheitlich ausgestaltet“ waren, schreiben die Behörden in einer gemeinsamen Erklärung. Das Jobcenter gehe davon aus, dass diese Arbeitsverhältnisse „nicht existent“, sondern für den Bezug von Arbeitslosengeld II abgeschlossen worden seien. Auch die Überprüfung von eingereichten Rechnungen durch Selbstständige lege durch ihre Einheitlichkeit den „Missbrauchsverdacht der Scheinselbständigkeit“ Eine Unschuldsvermutung scheint es in diesem Fall nicht zu geben. Stattdessen heißt es: „Das ist kein Kavaliersdelikt, sondern Wirtschaftskriminalität“, die durch die Kriminalpolizei verfolgt werde. Gruhl spricht von Betrug, Erschleichung von Sozialleistungen und Steuerhinterziehung.
Auch Konsequenzen wurden schon gezogen: Man habe beschlossen, das Freizügigkeitsrecht einzuschränken, sagt der Magistrat. Wer ein Arbeitsverhältnis oder einen nicht existierenden Wohnsitz vortäusche, verliere das in den EU-Verträgen zugesicherte Recht, hier zu wohnen, zu arbeiten oder einen Job zu suchen. „Dies führt schlussendlich zu Ausweisungen“, sagt Sozialstadtrat Klaus Rosche (SPD).
Die Sprecherin der Linksfraktion im Landtag, Doris Achelwilm, findet die Wortwahl der gemeinsamen Erklärung aus Bremerhaven „einigermaßen unangenehm“. Hier werden „rassistische Vorurteile gegenüber Leuten geschürt, die zu miesen Bedingungen und gegen schlechte Bezahlung arbeiten“, sagt auch Tobias Helfst vom Bremer Erwerbslosenverband. Es würden „Opfer bekämpft“ und nicht die Probleme – denn aus seiner Sicht geht es vor allem darum, dass die Zuwanderer nicht ihrem Vertrag entsprechend entlohnt würden: „Die Schweine sind nicht die Leute, die arbeiten, sondern die Firmen, die sie anwerben“, sagt Helfst.
In vielen Fällen seien die Arbeitgeber zudem auch die Vermieter, zudem müssten Zuwanderer aus Südost-Europa oft „viel Geld für Übersetzungstätigkeiten abdrücken“ und nicht selten für 200 Euro im Monat zu acht in einem Hinterzimmer mit „üblen sanitären Bedingungen“ wohnen, so Helfst.
Das Ziel dürfe nicht die Ausweisung der EU-Zuwanderer sein, sagt auch Achelwilm – sondern soziale Arbeitsbedingungen und reguläre Bezahlung. Sie forderte deshalb mehr Betriebskontrollen ein.
SPD und CDU in Bremerhaven unterstützten dagegen die repressive Politik der Behörden: „Es darf keine Armutszuwanderung in unsere Sozialversicherungssysteme geduldet werden“, sagt Sönke Allers, SPD-Fraktionsvorsitzender in der Stadtverordnetenversammlung. Bremerhaven sei zur „Zuwandererstadt für Osteuropäer“ geworden, „Sozialbetrug“ müsse deshalb durch „ein gemeinsames Handeln aller beteiligten Behörden massiv bekämpft werden“.
Die Initiative von SPD und CDU geht sogar noch weiter: Sie fordern „Aufklärung“ darüber, ob alle Autos mit osteuropäischen Kennzeichen in Bremerhaven über eine ausreichende Haftpflichtversicherung verfügten. Es sei „mehrfach angedeutet worden“, dass nach Unfällen die Geschädigten auf ihre Kosten sitzen geblieben seien. Bei fehlendem Versicherungsschutz erwarten SPD und CDU „die unverzügliche Stilllegung“ betroffener Autos.
Aus der taz – die tageszeitung, 14. März 2016
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