BEV 2017: Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt. Der andere packt sie kräftig an – und handelt.

Jahresbericht des Bremer Erwerbslosenverbandes (BEV) für 2016

Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt. Der andere packt sie kräftig an – und handelt.

Im Jahre 2016 hat sich der Bremer Erwerbslosenverband in seiner Gesamtheit mit seinen beiden Beratungsstellen in Bremen-Vegesack und in der Bremer Neustadt positiv entwickelt. Die Zahl der Beratungen hat kontinuierlich zugenommen auf nunmehr etwa 3500 in Vegesack und mehrere Hundert in der Neustadt. In Vegesack ist die Kapazitätsgrenze damit teilweise überschritten.

Nicht nur aber die Zahl der Beratungen hat zugenommen, gleichzeitig ist auch die Breite der Beratungsinhalte gewachsen. Die „klassische Erwerbslose“ mit ausschließlichem Bezug von Hartz IV ist zu einer kleinen Minderheit geworden. Hier sind es überwiegend Erwerbslose in höherem Alter, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr Arbeiten können und in absehbarer Zeit Erwerbsminderungs-, bzw. Altersrente beziehen werden. Außerdem zählen hierzu junge, allein Erziehende mit kleinen Kindern.
Den überwiegenden Teil der Ratsuchenden stellen Menschen, die zu ihrem geringen Einkommen oder Arbeitslosengeld I, ergänzende Leistungen wie Arbeitslosengeld II (Hartz IV), Wohngeld und oder Kinderzuschlag geltend machen könne. In zahlreichen Fällen handelte es sich um Überbrückungen zwischen kurzzeitigen (Lohn)Arbeitsverhältnissen, hauptsächlich in der Zeitarbeit. Bei diesen Menschen kann nicht von durchgängiger Erwerbslosigkeit, jedoch von durchgängigem Bezug von Hartz IV bei dauerhaft prekären und unsicheren Einkommensverhältnissen gesprochen werden. Je nach Höhe des Erwerbseinkommens bzw. des ALG I Anspruchs, können unterschiedlichen Arten der Aufstockungsleistungen geltend gemacht werden. Entweder die Kombination aus Kinderzuschlag und Wohngeld oder Hartz IV. Die von den Jobcentern dabei gemachten Vorgaben der Beantragung der vorrangigen Leistungen sind für die Betroffenen nicht nachvollziehbar und zum Teil falsch. Dadurch ergeben sich unnötige Beantragungen.

Sie sind fast ausschließlich Aufstocker*innen mit geringen Löhnen und sich oft ändernden, unsicheren Wohn- und Arbeitsverhältnissen.

Zudem hat sich auch die Zusammensetzung der Ratsuchenden nach aufenthaltsrechtlichen Kriterien erheblich verändert. Ca. 70 Prozent der beim BEV Ratsuchenden haben keinen deutschen Pass. Dabei sind es vor allem Menschen, die in den letzten Jahren aus anderen EU- Ländern zugewandert sind. Sie sind fast ausschließlich Aufstocker*innen mit geringen Löhnen und sich oft ändernden, unsicheren Wohn- und Arbeitsverhältnissen. Dies ergibt sich u.a. aus den Bestimmungen der EU – Freizügigkeit, da in den ersten fünf Jahren Lohnarbeit die Voraussetzung für einen legalen Aufenthalt in Deutschland ist.

Die überwiegende Mehrzahl der Leute in unserer Beratung ohne deutsche Staatsbürgerschaft hat als erste Sprache türkisch, polnisch oder bulgarisch. Zu den eh schon vorhandenen, oft auch noch nationalistisch oder rassistisch aufgeladenen, Umständen bei der Beantragung von Transferleistungen, beim Versuch eine Wohnung zu finden oder mit den Ansprüchen des Arbeitsverhältnisses umzugehen, kommt so eine weitere Hürde. Deswegen hat der BEV in Vegesack an einem Tag in der Woche eine Übersetzer*in für bulgarisch, türkisch und serbokroatisch in die Beratung integriert
Dazu erfährt der BEV vermehrt Zuspruch von Menschen aus den englischsprachigen Ländern Westafrikas (Die Beratungssprache ist hier Englisch), von Roma aus dem Kosovo und seid kurzem verstärkt von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak, nach dem Verlassen der Übergangswohnheime und Sammelunterkünfte.

Bei der Beratung aller letztgenannten Personen geht es weit über die sozialrechtlichen Fragen hinaus immer wieder um das Aufenthaltsrecht. Das Bleiberecht in Deutschland kann sowohl durch den Verlust eines Arbeitsplatzes als auch durch politische Entscheidungen in Berlin bedroht werden. Die politischen Entscheidungen zu sicheren Herkunftsländern, etwa auf dem Westbalkan oder Nordafrika, gefährden zahlreiche Menschen in ihrer Existenz. Hier ist von den Berater*innen des BEV besonders profundes Fachwissen erforderlich. Falsche Empfehlungen für Handlungsschritte und unterlassene Hilfestellungen können Existenzen gefährden und Leben kosten.

Da es bei dem allergrößten Teil der Beratungen um aufstockende Leistungen geht, ist zwangsläufig die Aufnahme und das Ende von Arbeitsverhältnissen ein wichtiger Themenbereich. Wir können feststellen, dass sich durch die Lockerungen arbeitsrechtlicher Bestimmungen in Folge der Agenda 2010 in vielen Kleinbetrieben, darunter in erheblichem Maße Verleihfirmen ein Trend zu bewussten Missachtung von arbeitsrechtlichen Regelungen herausgebildet hat. Nur in den wenigsten Minijobs finden die Bestimmungen der Lohnfortzahlung bei Krankheit, Urlaub und Feiertagen Anwendung. In Leiharbeitsfirmen werden verleihfreie Zeiten nicht bezahlt und oder Arbeitszeitkonten nicht ausgezahlt. Bei Ausfall der Einsatzorte werden Beschäftigte rechtswidrig zu Aufhebungsverträgen gedrängt. Abgesichert sind solche Arbeitsverhältnisse oft durch die Unkenntnis der von ihnen Betroffenen über ihre Rechte als auch durch sprachliche Hürden, die es praktisch oft verunmöglichen die eigenen Rechte einzufordern oder auch nur zu erfragen.

Dadurch wird die Abhängigkeit vollumfänglich, umfasst sowohl Arbeit als auch Feierabend.

Etliche Firmen im Bereich der Leiharbeit, des Baugewerbes, des Reinigungsgewerbes und der Gastronomie haben sich darauf „spezialisiert“ Menschen aus EU-Ländern mit geringen oder keinen deutschen Sprachkenntnissen so verstärkt auszubeuten. Hier winken zusätzliche Gewinne, da neben den üblichen oben genannten Schweinereien oftmals auch noch Löhne nur zum Teil ausgezahlt werden. Viele Unternehmer*innen haben die Lohnarbeit auch noch mit der Vermietung von Wohnungen kombiniert. Dadurch wird die Abhängigkeit vollumfänglich, umfasst sowohl Arbeit als auch Feierabend. Beide Seiten wissen hier, dass die Beendigung des Jobs auch den Verlust der Wohnung und die Beendigung des Aufenthaltsrechts bedeuten würde. Das macht einseitig erpressbar.

Daraus folgt für den BEV, das Grundfragen des Arbeitsrechts, verbunden mit der Fähigkeit konkrete Handlungsschritte wie das Einfordern von Lohn oder das Anrufen des Arbeitsgerichts, zwingend zu den Kompetenzen in unseren Beratungsläden gehören muss. Verstöße gegen Tarifverträge und geltendes Arbeitsrecht zu erkennen, ist nicht nur Schutz gegen die Willkür der Unternehmer*innen, sondern schützt auch vor Sanktionen durch das Arbeitsamt oder Jobcenter und kann den Aufenthaltstitel erhalten. Aber auch Kenntnisse über Miet- und Vertragsrecht gehören zu diesem Gesamtkomplex.

Wir erfinden uns neu oder wir werden nicht mehr sein

Die beschrieben Veränderungen machen deutlich, weder der Name „Erwerbslosenverband“, noch das übliche Klischee eines regelmäßigen Treffs von (weiß-deutschen) Gleichgesinnten mit Erfahrungsaustausch zum Jobcenter, beschreibt den BEV noch zutreffend. Arbeitsrechtsberatung, Interventionen gegen Wohnungsbaugesellschaften, Widerstand gegen die Sanktionspraxis der Jobcenter, Hilfe bei der Familienzusammenführung von Geflüchteten … all das findet sich inzwischen unter dem Dach der Aktivitäten des BEV.
Allerdings ist in der jetzigen personellen Besetzung der BEV damit überfordert, bei dieser Vielfalt der Problemfelder (und Rechtsgebieten) ein Gleichgewicht zwischen Intervention, Selbstorganisation und Rechtsberatung auch praktisch zu leben. Die ausschließliche Rechtsberatung und die individuelle Rechtsintervention verbleiben notwendig beschränkt auf die gesellschaftliche Ordnung und ihr Recht. Zudem schüren sie Illusionen über die scheinbare Möglichkeit der Befriedung der Umstände die die Beratung erforderlich gemacht haben, mit juristischen Mitteln. Sie individualisieren durch die Verrechtlichung kollektive Betroffenheitslagen von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen und legitimieren sie so immer wieder aufs Neue. Nötig wäre dagegen die Aufklärung der Betroffenen über die gesellschaftlichen Gründe ihrer Lage und die Begrenztheit legaler Mittel zu Ihrer Abhilfe. Die Erkenntnis der Nicht-Schuldhaftigkeit an der eigenen sozialen Lage wirkt nicht nur empowernd, sie macht auch reale Handlungsräume erkennbar.
Aber es gäbe aber auch deutlich weniger Ansätze zur Intervention wenn der BEV gänzlich auf die Beratung und die individuelle Rechtsintervention verzichten würde. Wenn der BEV die Grenzen dieser Beratungs- und Rechtsintervention aufzeigen könnte, ohne darauf zu verzichten sie anzuwenden, könnte er eine Grundlage schaffen für den täglichen „Kleinkrieg“ gegen die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und den sie garantierenden staatlichen Rahmen des Arbeits-, Sozial-, und Aufenthaltsrechts. Widerstand beginnt nicht erst beim Generalstreik oder „der“ Revolution sondern beim Erkennen der eigenen soziale Lage und ihrer Gründe, beim Bewusst-Werden um die eigenen Interessen – im Gegensatz zu denen von Staat, Unternehmer*innen und Vermieter*innen. Ebenfalls dazu gehört das (alltägliche) Einüben und Lernen des praktischen Handeln „dagegen“ – sei es durch Sabotage, Streik, Widerspruch oder Protest.

Ein Rückzug aus der Beratungspraxis würde den BEV auf die Rolle von Zaungästen sozialer Kämpfe mit Kommentarfunktion reduzieren.

Ein Rückzug aus der Beratungspraxis würde den BEV auf die Rolle von Zaungästen sozialer Kämpfe mit Kommentarfunktion reduzieren.
Kurzum: Im BEV sind zu wenige aktiv, die Aktiven müssen noch viel lernen, sie müssen neue Rechtsgebiete sicher handhaben und in mehr Bereichen Handlungs-, und Interventionsfähigkeit versuchen zu erlangen.

Zu alle dem kommt, das die bisherige Methode des BEV sich finanziell abzusichern – eine Kombination von Vereinsmitgliedschaften und Spenden – nicht mehr reicht bzw. im Zuge der Veränderung der Zusammensetzung der Menschen die den BEV aufsuchen nicht mehr ausreichend angenommen wird. Nötig ist es deshalb neue Mittel der Finanzierung zu entwickeln oder zu finden
Mit jahrelanger Verspätung hat so das Ende der „Erwerbslosenbewegung“ auch den BEV erreicht.

Der BEV holt deswegen in Worten nun das nach was er längst in Taten vollzogen hat und erklärt sich zu einem „offenen Projekt“. Von manchem Gewohnten gilt es sich zu trennen, viele Neue zu begeistern. Los gehts!